APROPOS Ausgabe 2/21
«Ich fühlte mich wie ein Brett»
Rückenschmerzen gehören für Alessia Cona seit ihrer Kindheit zum Alltag. Doch erst mit Anfang 20 kommt der Schock: Ihre fortgeschrittene Skoliose lässt sich nur noch mit einer Operation behandeln.
Von Marlies Seifert

Eigentlich ging Alessia wegen ihres Knies zum Orthopäden. Die passionierte Geräteturnerin hatte es sich beim Konditionstraining geprellt. «Zeig ihm doch gleich noch deinen Rücken», hatte Alessias Mutter ihr vor dem Termin beiläufig mit auf den Weg gegeben. Schliesslich machte der ja schon seit Jahren immer wieder Probleme. Gesagt, getan. Auf den ersten Blick – von vorne – stellt der Facharzt nur eine leichte Fehlhaltung fest. Als Alessia sich umdreht, wird ihm aber schlagartig das Ausmass des Problems bewusst. «Dann ging plötzlich alles ganz schnell», erinnert sich die heute 25-Jährige. Nach dem Begutachten der Röntgenbilder wird Alessia direkt zu den Spezialisten der Universitätsklinik Balgrist geschickt. Die Diagnose: weit fortgeschrittene Skoliose. Ihre Wirbelsäule ist am oberen Rücken bereits um 57 Grad seitlich verkrümmt. Ab 45 Grad wird üblicherweise eine Operation empfohlen. «Der Orthopäde hat mich darauf hingewiesen, dass die Skoliose ansonsten in den kommenden Jahren fortschreiten wird.» Alessias einzige Frage: «Werde ich auch nach der Operation noch turnen können?» Der Spezialist bejaht – und Alessia entscheidet sich für den Eingriff. Wenige Wochen später liegt sie bereits auf dem Operationstisch. Ihr ganzes Leben wird innerhalb von wenigen Monaten auf den Kopf gestellt. Dabei begann ihre Krankengeschichte schon viel früher. Rund zehn Jahre, um genau zu sein.
Fruherkennung spielt eine wichtige Rolle
Schon Ende der Primarschule klagt Alessia regelmässig über Rückenschmerzen. «Weil ich so intensiv turnte, dachten aber alle, dass ich einfach übertrainiert sei», erinnert sich die Solothurnerin. Doch dann fällt einer gleichaltrigen Kollegin etwas auf: «Ui, du hast ja einen riesigen Buckel!», bemerkt sie schockiert, als Alessia sich im Training bückt. Was die beiden Mädchen nicht wissen: Der sogenannte Rippenbuckel ist ein typisches Anzeichen für eine Skoliose. Durch die verdrehten Wirbelkörper werden die Rippen nach hinten gezogen, sodass sich der Brustkorb am Rücken wölbt. Dies bestätigt auch der Orthopäde, den Alessia kurz darauf in Begleitung ihrer Mutter aufsucht. Handlungsbedarf sieht er trotzdem keinen. «Er hat gesagt, ich solle einfach alle paar Jahre zur Kontrolle und weiter Sport treiben. Das sei gut für meinen Rücken.» Alessia ist erleichtert. Hauptsache, sie darf turnen! Und das tut sie auch. Allerdings immer häufiger begleitet von Schmerzen. «Aufs Trampolinspringen habe ich irgendwann ganz verzichtet.» Ihr fallen zudem vermehrt Veränderungen an ihrem Körper auf: Die rechte Schulter verdreht sich nach vorne, ihre Rippen treten immer deutlicher hervor. Mit 18 sucht sie erneut einen Orthopäden auf. Er verschreibt einige Einheiten Physiotherapie. Danach ist Alessia wieder auf sich allein gestellt.
Bei bis zu 90 Prozent der Skoliosen ist die Ursache unbekannt. Häufig wird die Krankheit erstmals im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren festgestellt. Oft handelt es sich um einen Zufallsbefund, da zu diesem Zeitpunkt noch keine Beschwerden auftreten. Mädchen sind etwa viermal häufiger betroffen als Jungen. Leichte Fälle werden mit Krankengymnastik behandelt. Falls sich der Patient oder die Patientin noch im Wachstum befindet, kann auch das Tragen eines Korsetts sinnvoll sein. Dieses soll ein Fortschreiten der Verkrümmung möglichst verhindern. Frühes Erkennen und Therapieren kann Skoliose zwar nicht heilen, aber immerhin aufhalten.
Das Leben nach der OP
In Alessias Fall hat dies nicht funktioniert. Im November 2019 wird ihre Wirbelsäule mit zwei Metallstangen vom vierten bis zum zwölften Wirbel versteift. Drei Stunden dauerte die Operation. «Als ich aufwachte, fühlte ich mich wie ein Brett», erinnert sich Alessia. Die starken Schmerzen lassen sich nur mit Morphium ertragen, die Physiotherapie treibt ihr die Tränen in die Augen. «Die Zeit im Spital war schwierig. Ich hatte das Gefühl, dass es nie mehr gut wird!». Nach zehn Tagen darf Alessia nach Hause. Dort verbessert sich ihr Zustand schnell. Einen Monat nach dem Eingriff kann sie endlich wieder schmerzfrei durchschlafen, drei Monate nach der OP beginnt sie wieder im Teilzeitpensum zu arbeiten. Und sie tastet sich langsam wieder an den Sport heran, geht joggen, fährt Velo – «ohne Bewegung geht’s einfach nicht», sagt sie lachend.
Wenn man sie eineinhalb Jahre nach der erfolgreichen OP fragt, ob sich ihre Lebensqualität durch den Eingriff verbessert habe, denkt Alessia lange nach. Der Alltag funktioniere gut, sagt sie. «Am besten geht es mir am Wochenende, wenn ich nicht allzu lange stehen oder sitzen muss, was in meinem Job als Chemielaborantin leider der Fall ist.» Zwischendurch vergisst sie ihre Rückenprobleme sogar ganz. «Wenn ich dann aber gedankenverloren etwas vom Boden aufheben möchte, werde ich schlagartig wieder daran erinnert.» Die Schmerzen melden sich immer noch regelmässig zurück. «Es geht mir nicht besser als vor der OP. Aber ich glaube, dass es mir zumindest in Zukunft nicht schlechter gehen wird.»
Vom aktiven Geräteturnen hat sich Alessia inzwischen verabschiedet. Doch auch damit hat sie ihren Frieden geschlossen. «Zum Plausch ist ja noch vieles möglich!», freut sie sich und schlägt zum Beweis ein Rad im Garten. Den Spagat hat sie schon drei Wochen nach der OP wieder gemacht. Selbst ihrer 40 Zentimeter langen Operationsnarbe kann Alessia etwas Positives abgewinnen. «Sie gefällt mir besser als der Quasimodo- Buckel, den ich davor hatte!»
In den Sozialen Medien trägt sie ihren vermeintlichen Makel sogar bewusst zur Schau. «Um anderen jungen Frauen in meiner Situation Mut zu machen.» Und die Öffentlichkeit für das Thema Skoliose zu sensibilisieren. «Ich habe mich als Jugendliche mit Rückenproblemen oft nicht ernst genommen gefühlt», sagt Alessia zurückblickend. «Im Nachhinein frage ich mich natürlich schon, ob man die Operation hätte vermeiden können, wenn man früher etwas unternommen hätte.» Böse sei sie niemandem – am allerwenigsten sich selbst. Trotzdem rät sie, Rückenleiden in jungen Jahren nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. «Man muss ja nicht gleich durchdrehen, aber zumindest dranbleiben!»
4142 Münchenstein